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Stadtschreiberin Odessa 2021: „Wir sind immer noch Geflüchtete“

Noam Partom gehört in Israel zur sogenannten dritten Generation. Ihre Großeltern flüchteten vor den Nationalsozialisten aus Mittel- und Osteuropa nach Israel. Zum ersten Mal besuchte die Dichterin und Performancekünstlerin im September anlässlich des internationalen „MERIDIAN“ Lyrikfestivals in Chernivtsi die Ukraine – das Land, in dem mehr als eine Million Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkrieges ermordet wurden. Diese Reise hat ihren Blick auf die Enkelgeneration von Geflüchteten in Israel und jüdische Einwanderer:innen aus der Sowjetunion in ihr Geburtsland verändert. Über ihre Eindrücke sprach die 35-Jährige mit Ira Peter.

Deine Vorfahren haben bis zum Holocaust in Mittel- und Osteuropa gelebt, teilweise im Gebiet der heutigen Ukraine – wie war es für dich, das erste Mal in dem Land zu sein?

Noam Partom: Die Reise durch die Südukraine nach Odesa hat mich erschüttert. Wir verließen Chernivtsi und fuhren vorbei an Chmelnyzkyj, Winnyzja – alles Namen, die ich seit der Grundschule kenne, weil dort Massaker an Juden verübt worden sind. Aber hier zu sein und zu begreifen, dass ein Großteil meines Volkes genau an diesen Orten gestorben ist, machte mich zum ersten Mal wirklich betroffen. Man spricht viel über den Holocaust in Israel, aber alle Erzählungen enden schnell bei Aussagen wie: Aber jetzt haben wir unser neues Land. Das ist typisch für das Konzept des Zionismus und hat viel mit Verdrängung zu tun. Dabei wurde das Leben unserer Großeltern als Nation plötzlich abgeschnitten und mit ihm ein riesiges kulturelles Erbe in Europa und großteils in der heutigen Ukraine. Das ist sonderbar. Diese Haltung bestimmt auch unser Verhältnis zu Palästina.

Haben deine Großeltern mit dir über den Holocaust gesprochen?

Noam Partom: Ich sprach viel mit meiner Oma darüber. Sie war während des Kriegs illegal als 14-Jährige mit einem Boot aus Danzig nach Israel gekommen. Die Briten, die damals Israel verwalteten, schickten sie nach Mauritius weiter. Sie lebte fünf Jahre auf der Insel und hat dort auch meinen Opa kennengelernt. Er hatte sie nach der Ankunft vom Schiff getragen, sie hatte Typhus und war ganz schwach. Sie erzählte mir, dass ihr Name permanent auf einer Liste stand mit Geflüchteten, von denen man annahm, dass sie bald sterben würden. Sie hatte alle möglichen Krankheiten wegen des tropischen Klimas. Mein Opa war aus der Tschechoslowakei geflüchtet. Alle Familienangehörigen meiner Großeltern, bis auf einen Bruder, starben während des Holocausts. Das sind Dinge, die ich weiß, viel erzählt wurde trotzdem nicht. Jetzt hier zu sein, lässt mich verstehen: ich bin Teil dieser Geschichte und wir sind immer noch Geflüchtete. Überall auf der Welt hat die Enkelgeneration von Einwanderern ein Bewusstsein dafür, dass sie Einwanderer sind. Aber niemand von uns jungen Israelis hat das. Der Blick des Zionismus ging immer nach vorn.

Deine Mutter wurde 1947 in Israel geboren, wie ist sie mit der Geschichte deiner Großeltern umgegangen?

Noam Partom: Meine Mutter hat mir nie etwas erzählt. Ich hatte den Eindruck, sie wusste nichts über ihre Eltern, auch weil ihre Eltern nicht darüber sprachen. Sie wollte auch nie, dass ihre Eltern Deutsch sprechen. Natürlich verstand sie die Sprache, konnte selbst Deutsch. Aber sie lehnte diese Sprache ab. Sie wurde vom Bildungssystem des damals neuen Israels gebrainwashed, über den Holocaust innerhalb der Familien zu schweigen, vielleicht sich auch dafür zu schämen.

Findest du hier in der Ukraine Zugang zu dieser Welt, aus der deine Familie in Europa geschnitten wurde?

Noam Partom: Ja, ich spüre, dass ich im Wesentlichen von hier bin, das ist verrückt. Als wir nach Odesa fuhren, dachte ich darüber nach, dass jeder, der in Israel lebt, nicht wirklich von dort ist. Dieses Land ist nicht wirklich unser Zuhause. Ich wurde in Tel-Aviv geboren, bin da aufgewachsen, aber was die Mentalität zum Beispiel betrifft, fühle ich mich in der Ukraine mehr zu Hause. Als ich Bilder in sozialen Medien aus Chernivtsi postete, schrieben mir plötzliche viele Bekannte aus Israel, dass sie in der Ukraine geboren wurden. In den 1990ern kamen viele Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel, aber ich habe nie darüber nachgedacht, woher sie eigentlich kamen.

Wie hast du Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion damals in Israel wahrgenommen?

Noam Partom: Wir nannten diese Menschen Russen, und zwar alle. Es kamen damals so viele, das änderte die soziale Dynamik des Landes. Auch weil man plötzlich Russisch auf der Straße hörte. Jetzt erst, wo ich in der Ukraine bin, verstehe ich, dass es nicht Russen waren, sondern Ukrainer oder Moldauer mit jüdischen Wurzeln. Selbst bei meinem Exfreund hatte ich den Unterschied damals nicht gemacht. Dabei ist er auch Ukrainer und kein Russe. Es ist wie eine Doppelsünde gegenüber diesen Menschen. Unser Blick auf diese Menschen hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass sich viele in Israel assimilierten und nicht einfach nur integrierten. Ich habe zum Beispiel eine Schülerin, die ich im kreativen Schreiben unterrichte. Sie ist Jüdin aus Moldau und kam im Kindesalter als „Irina“ nach Israel. Da haben ihr die Behörden den Namen „Irit“ verpasst. So heißt meine Mutter, das ist also kein Name für ein junges Mädchen, aber es ist ein israelischer und russischer Name. Viele aus der Ex-UdSSR hatten ihre Namen geändert. Sie sollten einfach von vorne anfangen und alles vergessen, was sie vorher waren.

Ist das eine Parallele zu dem, was deine Großeltern erlebt hatten, als sie nach Israel kamen?

Noam Partom: Absolut, alle sollten im neuen Israel aufgehen und das Vergangene abstreifen. In meiner Familie wurde wenig über das Leben in Europa gesprochen. Gleichzeitig hat meine Großmutter immer Dinge gehortet. Sie hing generell an Dingen, hat immer über bestimmte Dinge erzählt wie das Französisch-Wörterbuch mit goldenem Einband, das ihr ein Deutscher vor der Flucht entrissen hatte oder ihr Klavier in Danzig. Als sie aus ihrer Wohnung in ein Seniorenheim ziehen musste, war sie völlig aufgelöst, weil sie sich von vielen Dingen für immer trennen musste. Meine Mutter ist auch jemand, der Dinge sammelt. Vielleicht ist das eine Folge des Traumas, Dinge nicht aus dem Leben gehen zu lassen, wenn schon so viel anderes aus der Familiengeschichte verschwunden ist.

Wirkt sich dieses Trauma in deinem Leben fort?

Noam Partom: Ja, zum Beispiel in dem Verhältnis zu meiner Mutter.Als ich an Multiple Sklerose erkannte, musste ich es vor meiner Mutter verheimlichen. Mein dritter Gedichtband, der gerade herausgegeben wird, beschreibt in Gedichten, warum ich ihr das nicht gesagt hatte. Sie ist ein verschlossener Mensch und hat vor allem Angst. Sie hätte in der Krankheit nur einen Beweis dafür gesehen, dass ein Fluch über ihrer Familie liegt. Vor der Reise in die Ukraine hat sie zum Beispiel permanent auf mich eingeredet, ich sollte überall eine Maske tragen, niemandem vertrauen. Für sie bedeutet Reisen der Aufbruch in eine Welt der Gefahren. Sie rechnet die ganze Zeit damit, dass etwas Schreckliches passieren könnte.

Und ist etwas Schreckliches passiert?

Noam Partom: Natürlich nicht. Ich habe in der Ukraine sehr viel Herzlichkeit und ein Gefühl von Zuhause erlebt. Diese Reise hat mich näher zu meiner Familie und ihrem Erbe gebracht und meinen Blick auf Israel verändert.

Stadtschreiberin Odessa 2021